Samstag, 16. Januar 2010

Ansätze für ein Gatekeeping 2.0

Ein “Gatekeeper” war früher zumeist der Redakteur im Newsroom, der entschied, welche Nachrichten auf seinem Schreibtisch — im Medium — und welche im Müll landeten. Begrenzter Raum in gedruckten oder gesendeten Medien erforderte die Auswahl aus einer Vielzahl von Meldungen der Agenturen oder anderer Medien. Redakteure entschieden anhand von Relevanzkriterien, die in der Nachrichtenwertforschung als Nachrichtenwertfaktoren bezeichnet werden, welche Meldungen außen vor bleiben mussten. Gatekeeping meint klassisch also die “Begrenzung der Informationsmenge durch Auswahl von als kommunikationswürdig erachteten Themen”. Bekannte Untersuchung wie die des “Mr. Gates” von David M. White (1950) begründeten diesen Forschungsbereich vor Jahrzehnten.

Vor kurzem durfte ich einen Vortrag zu diesem Thema verfolgen, bei dem die Referenten eindrücklich zeigen konnten, wie die Relevanz dieses klassischen Modells zunehmend schwindet. Heute kann theoretisch jeder sein eigener Gatekeeper sein: der Raum ist nicht mehr begrenzt, die eingehenden Meldungen liegen zum größten Teil für jeden zugänglich im Internet vor, der (ehemalige) Konsument ist insgesamt viel näher an der eigentlichen medialen Produktion.

Die Begrenzung der Informationsmenge bleibt nichtsdestotrotz relevant — ansonsten finden wir uns in der Masse unmöglich zurecht, landen zwangsläufig in einem “Information Overload” (bzw. Clay Shirky sagt “It’s Not Information Overload. It’s Filter Failure.”) und bleiben am Ende des Tages uninformiert. Menschen brauchen daher auch im Internet Hilfsmittel, zentrale Anlaufpunkte — Leuchttürme –, die für uns oder mit uns auswählen. Das sind aber nicht mehr, wie gestern, zwangsläufig die klassischen Gatekeeper, also Nachrichtenredaktionen im Speziellen und massenmediale Angebote im Allgemeinen. Michael Wesch hat in seinem bekannten Vortrag vor dem Library of Congress dazu — singemäß — gesagt:
Für die Distribution von Inhalten brauchten wir früher die Maschinerie der Massenmedien — heute gibt es eine usergenerierte Alternative.
Betrachtet man in diesem Kontext die Auswahl und Bereitstellung von Nachrichten, Kernstück der Verlage, so können aktuell grundsätzlich drei unterschiedliche Gatekeeping-Ansätze festgehalten werden:
  1. Gatekeeping durch eine organisierte Redaktion
    Der klassische Ansatz, der auch heute noch in jedem Verlag gängig ist, auf Basis der alten massenmedialen Konstrukte argumentiert und, wie oben gezeigt, durch die Nachrichtenwertforschung intensiv untersucht wurde.
  2. Gatekeeping durch einen technologischen Algorithmus
    Der “Google”-Ansatz, auch wenn diese Form der Auswahl natürlich schon vor Google durch Suchmaschinen verschiedener Art möglich war. Google News hat die technologische Filterung im Nachrichtenumfeld jedoch am stärksten getrieben, Silobreaker, Newskraft und Techmeme sind beispielhafte Alternativen, die zum Teil in Nischen arbeiten, immer aber vordergründig technologische Ansätze, die nach mathematischen Relevanzkriterien auswählen, verfolgen.
  3. Gatekeeping durch eine kollektive Masse an Menschen
    Der Ansatz verschiebt die Arbeit des Redakteurs nicht auf Technologie, sondern auf ein Kollektiv, auf den “Groundswell”. Die Redaktion wird hier durch das unbezahlte, disperse Publikum ersetzt, in dem die einzelnen Personen in einer Masse aufgehen, die Entscheidungen trifft, wodurch Relevanzen — zumindest theoretisch — demokratischer vergeben werden. Sogenannte “Intermediäre” wie Technorati, Delicious oder Digg setzen auf “user generated Recommendation” und bieten die dazu nötigen Technologien an, um den Nutzer zum Teil einer neuen Gatekeeper-Maschinerie zu machen.
Diese Lösungen konvergieren im Web 2.0, so dass eine klare Einordung einzelner Angebote letztlich nur schwer möglich ist. Kollaborative Ansätze arbeiten zwangsläufig immer mit technischen Lösungen (Digg braucht einen funktionierenden Technologiehintergrund, um User einzubeziehen), vormals rein technische Aggregatoren beschäftigen neuerdings Redakteure. Dies macht die Diskussion über die einzelnen Ansätze nicht leichter: Alle drei Gatekeeping-Ansätze sind an verschiedensten Stellen kritisierbar. Wir haben in einem vorherrigen Beitrag die Meinung vertreten, die Redaktion sei beiden Ansätzen überlegen: Technologien könnten unmöglich Relevanzen nach menschlichen Kriterien bestimmen, das Kollektive würde nach Kriterien selektieren, die nicht an gewisse berufsethische Vorstellungen oder spezifische Rechte und Pflichten gebunden sind, wie dies bei Journalisten der Fall ist. Der Effekt der Schweigespirale in der öffentlichen (”Online”)-Meinung könne hier zum Tragen kommen. Nichtsdestotrotz muss ich zugeben: Auch Redaktionen sind natürlich Arbeitszwängen, verlegerischen Leitlinien und — bewusst oder unbewusst — politischen und wirtschaftlichen Interessen unterworfen. Eine Mischung aller Ansätze könnte jedoch eine Innovation für die Zukunft sein, die gegenseitig Nachteile ausgleicht.

Verlage müssen sich die Fragen gefallen lassen, weshalb sie neben dem ersten Gatekeeping-Ansatz nicht auch auf neue Formen zurückgreifen, die nun im Internet realisierbar sind. Beim technologischen Gatekeeping ist noch verständlich, dass die verlegerische Kernkompetenz nicht auf der Erstellung dieser Systeme liegt. Doch gerade die Funktion von “Intermediären”, also Serviceanbietern, die ihren Kunden eigenes Gatekeeping ermöglichen, ist zu spannend, als dass Verlage diese einfach ignorieren könnten. Wie sollte man gegenüber seinen Usern im Internet rechtfertigen, dass sie nicht an der Nachrichtenselektion beteiligt werden? Die Argumente des klassischen Gatekeepings funktionieren hier nicht mehr — Verlage müssen sich dazu Gedanken machen.

Zu erst veröffentlicht am 22. Dezember 2008, 16:14 Uhr auf Zeitungsperspektiven.de

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